Die blauen Wölfe – Seite 1

Für diesen einen Abend sind sie blaue Wölfe. Nurrissam Ismailova steht lachend in einem glitzernden Kleid auf der Bühne, neben ihr der Musiker Artur Ilakhunov. Gemeinsam singen sie sein Lied Kök böre biz, "Blauer Wolf", blau wie die uigurische Unabhängigkeitsfahne. Dieses Jahr wurde es zu einer Hymne der Exil-Uiguren, es handelt vom Wunsch nach Unabhängigkeit und von Zusammenhalt wie bei den Wölfen. Ismailova und Ilakhunov sind Uiguren, genauso wie viele im Publikum hier in einem Kulturzentrum im Münchner Norden. Mit Tränen in den Augen klatschen sie im Takt, Kinder tanzen umher, manche stimmen leise in den sich wiederholenden Ruf ein. Hum, hum, hum. Wie das schwache Echo eines Kampfrufs. "In diesem Moment hatte ich kurz das Gefühl, dass der Tag wirklich kommen wird, an dem wir frei sind", sagt Nurrissam Ismailova später.
Über eine Million Uiguren wird in der autonomen Region Xinjiang in chinesischen Umerziehungslagern festgehalten. Kürzlich geleakte Geheimdokumente aus der Kommunistischen Partei belegen, dass das Ziel der vermutlich über Hundert Lager die Gehirnwäsche der muslimischen Minderheit ist. Ihnen soll ihre Kultur ausgetrieben werden. Fast jeder Exil-Uigure, der heute hier in München ist, hat Verwandte, die in den letzten Jahren plötzlich verschwanden oder verhaftet wurden. "Wir haben es jahrelang nicht geschafft, die Welt von der Wahrheit über die Lager zu überzeugen", sagt Madina Tursun, 32. "Aber jetzt hat es China mit den geleakten Dokumenten selbst geschafft."

Es hat sich ein besonderer Mut verbreitet

Wie sie mit der neuen Aufmerksamkeit umgehen sollen, wissen manche Exil-Uiguren selbst noch nicht. Sie sind hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung, dass sich nun alles ändert und das Ausland ihrem Volk hilft, und der Skepsis, ob nicht doch alles so bleibt und sich kein Staat ernsthaft mit der Weltmacht China anlegen will. Aber trotzdem hat sich gerade in München ein besonderer Mut unter den Uiguren verbreitet. Viele sprechen offen, demonstrieren, feiern ihre Kultur und lassen sich nicht einschüchtern. Während China ihren Verwandten die uigurische Kultur austreiben will, wollen sie sie im Exil umso mehr erhalten.
Hier in München ist wohl der Ort, an dem sich die Exil-Uiguren am stärksten fühlen: In keiner europäischen Stadt leben so viele von ihnen, sie ist ihr politisches Zentrum. Hierher zogen in den Siebzigern die ersten Uiguren, die in den Westen gingen, und hier hat auch heute der Weltkongress der Uiguren seinen Hauptsitz. Etwa 700 Uiguren leben in München, in ganz Deutschland sind es 1.500. Und sie werden mehr: Die Zahl der Asylanträge von Uiguren steigt seit drei Jahren, die Schutzquote laut Bundesamt für Migration auch. Und genau so lange ist es her, dass sich auch die uigurische Gemeinde in München veränderte.
"Seit 2017 sind wir immer näher zusammengerückt", sagt Nurrissam Ismailova. Seit der Kontakt zu den meisten Verwandten in Xinjiang abriss und viele in Lager gebracht wurden. Die Münchner Uiguren suchten untereinander Trost, während sie um ihre Geschwister, Eltern und Großeltern bangten. Was der Auslöser war, dass auch ihre Familien interniert wurden, wissen sie nicht. Verdächtig ist man laut der geleakten Dokumente schon, wenn man täglich zu Allah betet, keinen Alkohol trinkt oder öfter ins Ausland reist.
Diejenigen, die Gemeinschaft und Kultur der Uiguren in München besonders stützen, sind die Frauen – allen voran Nurrissam Ismailova. Sie kam vor fast 25 Jahren mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdiensts hierher. In den letzten Jahren baute sie die uigurische Frauenvereinigung Arzu neu auf und ist im Vorstand vom Weltkongress der Uiguren. Ihr ist es wichtig, ihre Kultur weiterzugeben. Die uigurischen Kinder in München sollen wissen, woher sie kommen. Mittlerweile haben an den Wochenenden ein uigurischer Kindergarten und eine Schule eröffnet und das Interesse an den Tanzgruppen wächst.

"Als Exil-Uigure kann man sich nie frei fühlen"

Die Exil-Uiguren sind froh, dass seit den China Cables auch viele Nichtuiguren wissen, was ihren Verwandten in Xinjiang angetan wird. Regelmäßig organisiert Ismailova Abende wie heute, mit uigurischer Musik, Tanz und Laghman, handgezogenen uigurischen Nudeln. Das Kulturfestival an diesem Sonntag ist das erste seit den Enthüllungen. Und zum ersten Mal, sagt Ismailova, sitzen auch einige deutsche Zuschauer im Publikum. Früher seien manchmal ein paar deutsche Obdachlose gekommen, die sich über kostenloses uigurisches Essen gefreut haben.
"In diesen Kulturabenden steckt meine Sehnsucht, frei zu sein", sagt Ismailova. "Aber als Exil-Uigure kann man sich nie frei fühlen. Man kann nicht in seine Heimat gehen."
Auch in Deutschland fühlen sie sich nicht frei. Viele hier fragen sich, ob das Verschwinden ihrer Verwandten etwas mit ihnen zu tun hat und damit, dass sie sich in Deutschland kritisch über China äußern. Eine erzählt, ihre Familie habe sie gebeten, nicht mehr anzurufen, sie hätten Angst, welche Folgen das für sie habe. Ein Verwandter von Ismailova, der mittlerweile auch in Deutschland lebt, will keinen Kontakt mit ihr, weil sie sich im Weltkongress der Uiguren engagiert. Chinas Überwachungssystem und die Angst davor erreichen auch die Uiguren in Deutschland.
"Ich habe keine Geheimnisse, denn die chinesische Regierung weiß eh schon alles", sagt Gülziye Taschmamat, 33, mit finsterer Miene. Sie ist derzeit eine der lautesten Stimmen der deutschen Exil-Uiguren. Vor acht Jahren kam sie nach München, allein, wie viele der uigurischen Frauen hier. Sie hatte sich während ihres Studiums in sozialen Netzwerken kritisch über die chinesische Regierung geäußert. "Wenn jemand so etwas schreibt oder sagt, hat er in China keine Zukunft", sagt sie und wirft einen Blick auf ihre Tochter, die am Boden mit anderen Kindern spielt.

Erst verschwanden die Eltern, dann die Schwester

Die uigurischen Studenten in China seien ständig überwacht worden und sie hätten sich regelmäßig melden müssen, erzählt sie.  Nach neun dürften sie sich nicht in Restaurants oder in der Dunkelheit aufhalten und zum Beispiel auch kein Hotelzimmer buchen. Gülziye Taschmamat beantragte politisches Asyl in Deutschland. 2014 war sie das letzte Mal in China bei ihrem Onkel, und die ganze Zeit seien sie von einem weißen Auto verfolgt worden. Als sie und ihre Schwester Gulgine 2017 länger nichts von ihren Eltern gehört hatten, reiste die Schwester nach Xinjiang, um nach ihnen zu sehen. Und auch sie verschwand. Bis heute hat Gülziye Taschmamat weder von ihren Eltern noch von ihrer Schwester gehört.
Madina Tursun, 32, steht in der Konzertpause neben ihrer Freundin Gülziye am Stand mit uigurischem Schmalzgebäck, das auf einer Flagge der uigurischen Freiheitsbewegung ausgebreitet liegt. Mit 16 kam sie von Kasachstan nach Deutschland, in Xinjiang hat sie selbst nie gelebt. Aber sicher fühlt auch sie sich nicht. Sie erzählt davon, wie ein deutscher Lehrer sie in der Schule aufforderte, in einem Kurzreferat von den Uiguren zu erzählen. Sie habe gesagt, 15 Minuten würden dafür nicht reichen. Sie recherchierte viel online und erzählte zwei Unterrichtsstunden lang von ihrer Heimat. Danach hätte sie per SMS Drohungen bekommen, von chinesischen Absendern. "Seitdem weiß ich, dass ich auch hier noch meine Klappe halten muss", sagt sie. Auch wer ins Ausland gehe, werde überwacht.

"Man kann Kultur nicht löschen"

Vor einigen Jahren reiste Madina Tursun zum ersten Mal nach Xinjiang. Sie wollte sehen, woher ihre Familie stammt. "Es war aber auch mein letztes Mal dort", sagt sie. Stundenlang sei sie bei der Einreise aufgehalten und befragt worden, danach nochmals auf einer Polizeistelle. Auf der Straße habe kein Taxi für sie angehalten und ihr Onkel habe ihr erklärt: Für Uiguren halten chinesische Taxifahrer nicht. Man spüre jederzeit, dass man dort ein Mensch zweiter Klasse sei.
Dass Uiguren in Lagern festgehalten werden, wusste sie lange bevor nun klare Beweise bekannt wurden. Aber eine Sache sei auch für sie neu gewesen: "Ich bin erschrocken, als ich gehört habe, dass deutsche Konzerne in unserem unterdrückten Land investieren und VW dort sogar ein Werk hat", sagt sie. Das hätte sie nicht gedacht, sie fahre doch selbst einen VW und habe jahrelang in Kassel gelebt, wo es ein Werk gibt. Nun will sie vor diesem Kasseler VW-Werk eine Demonstration organisieren.
Dass gerade die jungen uigurischen Frauen so politisch aktiv sind, sei in der Kultur verankert, sagt Nurrissam Ismailova. Uigurische Frauen seien sehr unabhängig, ihnen werde als Kind beigebracht, dass sie für sich selbst Verantwortung übernehmen müssen. "Wir brauchen nicht viel von den Deutschen", sagt auch Gülziye Taschmamat und hebt das Kinn ein bisschen. "Wir brauchen kein Geld, wir haben studiert und können für uns sorgen. Nur was wir eben nicht haben, ist Freiheit."

"Fast alle der Musiker sind mittlerweile eingesperrt"

Manche der Exil-Uiguren hoffen, dass die westliche Welt nun gegen China vorgeht. Bisher verurteilte der US-Kongress die Inhaftierungen und das US-Außenministerium prüft weitere Sanktionen gegen China. Die EU forderte internationalen Zugang zur Provinz Xinjiang. Aber direkte Konfrontation suchte noch keiner der Machthaber.
Andere Uiguren fühlen sich vor allem von muslimischen Ländern im Stich gelassen und sehen diese in der Pflicht, der muslimischen Minderheit in China zu helfen. Nurrissam Ismailova sagt, es mache sie wütend, wie wichtig offenbar wirtschaftliche Interessen seien. Man wisse doch schon viel länger von der Unterdrückung der Uiguren, aber man habe es eben nicht sehen wollen. Deswegen habe sie Zweifel, ob die neuen Beweise viel ändern werden.
Am Tag nach dem Kulturfest sitzt Ismailova in einem uigurischen Imbiss in München, vor sich eine Schale Laghman und ein Glas Tee. Im Fernsehen laufen alte Aufzeichnungen uigurischer Livemusik. "Uiguren geben mit der Kultur auch die Sehnsucht nach unserem Land an ihre Kinder weiter, so war es auch bei meinen Eltern", sagt sie. "Das tut so weh." Von der hoffnungsvollen Nurrissam Ismailova auf der Bühne ist heute wenig übrig. Sie zeigt auf den Fernseher an der Wand. "Fast alle der uigurischen Musiker, die da singen, sind mittlerweile eingesperrt." Dann rollt sie eine Gabel Laghman auf und sagt: "Aber man kann Kultur nicht löschen."