"Die meisten Russen wissen, dass die Staatspropaganda lügt" – Seite 1

Die "Nowaja Gaseta" ist die bekannteste unabhängige Zeitung in Russland. Sie wurde 1993 in Moskau von Dmitri Muratow gegründet, dem im Jahr 2021 zusammen mit der philippinischen Journalistin Maria Ressa der Friedensnobelpreis zuerkannt wurde. Die Zeitung galt nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs Ende Februar als letztes aktives regimekritisches russisches Medium, bevor sie am 28. März 2022 ihr Erscheinen einstellte – unter dem Druck eines restriktiven neuen Mediengesetzes. Kirill Martynow war zu diesem Zeitpunkt stellvertretender Chefredakteur der "Nowaja Gaseta". Nun gründet er im Ausland ein Onlinemedium: "Nowaja Gaseta Europe". Vor einigen Tagen war Martynow in Berlin, wo dieses Interview in den Redaktionsräumen von ZEIT ONLINE stattfand.

ZEIT ONLINE: Herr Martynow, wie gestaltet sich Ihr Dasein als nun ehemaliger Vizechef der Nowaja Gaseta seit dem Tag des Einmarschs des russischen Militärs in der Ukraine? Wir treffen uns hier in Berlin, wo sind Sie zum Beispiel gerade hergekommen?

Kirill Martynow: Aus Riga, und dorthin werde ich nach meinem Besuch in Berlin wieder zurückkehren. Meine persönliche Situation empfinde ich als etwas exotisch gerade. Ich bin russischer Staatsbürger, mit einem Touristenvisum nach Deutschland eingereist, und seit ein paar Tagen bin ich außerdem Gründer eines neuen Onlinemediums namens Nowaja Gaseta Europe mit Sitz in Lettland. Ich habe Russland vor knapp einem Monat mit nichts als einem Rucksack verlassen.

ZEIT ONLINE: Wie genau?

Martynow: Am 4. März mit dem Flugzeug von Perm im Ural, ich bin zunächst nach Istanbul geflogen. Ich stand im Flughafen von Perm nachts vor zwei russischen Grenzbeamten, mein Telefon und meinen Laptop wollten sie sich nicht anschauen. Stattdessen fragten sie mich nur, weshalb ich denn verreisen wolle. Meine Antwort lautete: "Unser Land befindet sich gerade in einer seltsamen Situation, da könnten mir ein paar Tage Urlaub in Istanbul guttun." Sie haben mich durchgewinkt. Ich fand dann ein billiges Hotelzimmer in Istanbul und meldete mich bei meinen Kontakten in Europa. Wenn Sie mich also fragen, wie sich mein Dasein gerade gestaltet, würde ich sagen: manchmal wie in einem Politthriller, allerdings nur in der Qualität eines B-Movie.

ZEIT ONLINE: Wie betreffen Sie persönlich die westlichen Sanktionen?

Martynow: Dank denen komme ich zum Beispiel nicht mehr an mein russisches Konto heran. So muss ich etwa andere Menschen bitten, mir Flugtickets zu buchen. Doch ich habe mich entschlossen, mich nicht zu beschweren. Russische Städte werden im Gegensatz zu ukrainischen derzeit nicht in Schutt und Asche gebombt. Es gibt also aus meiner Sicht keinen Grund, sich als Russe gerade über irgendetwas zu beklagen, das einem widerfährt.

ZEIT ONLINE: Sie haben Ihr Heimatland in einem Moment verlassen, als die Nowaja Gaseta noch erschienen ist. Am 28. März hat sie ihre Arbeit eingestellt, vorübergehend, wie es heißt.

Martynow: Ich bin sehr stolz darauf, dass wir es geschafft haben, noch einen Monat lang während des Kriegs als Zeitung zu erscheinen und Leser über den Krieg zu informieren. Von Moskau aus ließ sich das aber nicht mehr weiterführen. Ich begreife meinen Aufenthalt im Ausland nun nicht als Exil. Es ist zwar nicht direkt ein Business-Trip, auf dem ich mich derzeit befinde, aber ja, wir starten ein Medienprojekt. Als ich Russland verließ, wusste ich, dass ich eine neue Betätigung finden wollte und keinen Unterschlupf.

ZEIT ONLINE: Die Nowaja Gaseta hatte zuletzt rund 140 feste redaktionelle Mitarbeitenden. Wissen Sie, wo die nun sind und wie es für sie weitergeht?

Martynow: Lassen Sie es mich so ausdrücken: Obwohl das Erscheinen der Zeitung eingestellt wurde, versucht der Chefredakteur Dmitri Muratow alles, sich um die nunmehr früheren Mitarbeitenden zu kümmern. Wir wissen aber nicht, was die russischen Behörden als Nächstes unternehmen werden, womöglich auch gegen die Nowaja Gaseta und deren nun früheren Mitarbeitenden. Manche von denen wollen nun außerhalb Russlands arbeiten. Für sie gilt, was auch für andere Russen gilt: Es kommt auch auf die eigenen Lebensumstände an. Jüngere etwa tun sich leichter mit einem Schritt ins Ausland.

ZEIT ONLINE: Der bisherige Nachrichtenchef der Nowaja Gaseta, Nikita Kondratjew, hat Anfang März in einem Brief an die Leserschaft geschrieben: "Wir bleiben in Russland bis zum Ende, es ist unser Land." Wenn die russischen Journalistinnen und Journalisten nicht weiter aus dem Land berichten würden, so Kondratjew, erführen die Menschen dort nicht die Wahrheit.

Martynow: Nikita Kondratjew hat jedes Recht, das zu sagen. Als ehemaliger und womöglich auch künftiger Philosophiedozent würde ich dagegen ein utilitaristisches Argument ins Feld führen: Man sollte sich fragen, wo man sich am besten nützlich machen kann, insbesondere dabei, diesen Krieg zu stoppen. Der einstige Newsroom der Nowaja Gaseta kann sich meiner Meinung nach derzeit am besten nützlich machen, indem er außerhalb von Russland operiert. So kann man die Leserschaft am besten und ohne Zensur informieren, während man selbst in Sicherheit ist. Wir haben Russland nicht wirklich verlassen, wir glauben lediglich, einen anderen Weg gefunden zu haben, unsere Arbeit von anderen Orten außerhalb Russlands aus fortzusetzen.

"Wir werden die Werte der 'Nowaja Gaseta' weiterführen"

"Die russische Staatspropaganda sagt: Wir sind das Volk, das die Nazis besiegt hat, deshalb können wir als Nation gar keine bösen Dinge tun." Kirill Martynow während des Interviews in den Redaktionsräumen von ZEIT ONLINE © Meiko Hermann für ZEIT ONLINE

ZEIT ONLINE: Die bald startende Website Nowaja Gaseta Europe führt den nahezu selben Namen wie die derzeit nicht erscheinende Zeitung. Die URL der geschlossenen News-Site der Zeitung unterscheidet sich von der URL Ihres neuen Projekts nur durch einen einzigen Buchstaben, statt .ru lautet die Länderkennung .eu. Juristisch handelt es sich aber offenbar um zwei getrennte Organisationen?

Martynow: Das ist richtig. Für die neue wird aber ein Teil desselben journalistischen Teams arbeiten, der auch für die alte gearbeitet hat. Aktuell sind das 33 ehemalige Beschäftigte der Nowaja Gaseta.

ZEIT ONLINE: Wenn wir das korrekt verstehen, und wir erwarten nicht, dass Sie darauf antworten, hat diese Trennung mutmaßlich etwas damit zu tun, wie russische Behörden sie rechtlich bewerten könnten. Also fragen wir stattdessen: Wie und worüber wird Noweja Gaseta Europe berichten?

Martynow: Wir werden die Werte und journalistischen Standards der Nowaja Gaseta weiterführen. Wir möchten ein proeuropäisches russisches Medium für Menschen sein, die innerhalb oder außerhalb von Russland leben und sich für russische Angelegenheiten interessieren. Ich glaube, dass wir dafür durch unsere eigene, gerade auch jüngere Vergangenheit als Zeitung besonders geeignet sind. Unsere Story ist zutiefst seltsam: Vor kaum einem halben Jahr wurde unserem Chefredakteur der Friedensnobelpreis zugesprochen und heute wird die Zeitung, die er leitet, nicht mehr gedruckt.

ZEIT ONLINE: Die russischen Behörden versuchen, Medieninhalte aus dem Ausland im russischen Netz zu blockieren und etwas Ähnliches für Russland zu schaffen wie die Great Firewall der chinesischen Internetzensur. Um in Russland künftig Nowaja Gaseta Europe lesen zu können, wird man einen VPN-Dienst benutzen müssen. Das bedingt bei den Usern ein Mindestmaß an technischem Know-how und an Willen, Medien aus dem Ausland überhaupt wahrnehmen zu wollen. Wen erreicht man also überhaupt auf diesem komplizierten Weg?

Martynow: Es stimmt, die russischen Behörden eifern offenbar dem chinesischen Modell eines nach außen abgeschotteten nationalen Netzes nach. Dabei sind sie nur bedingt erfolgreich. Die russische Internetzensur hat es bislang zum Beispiel nicht geschafft, YouTube zu beherrschen oder gar wie in China durch eine eigene Videoplattform zu ersetzen. Also benutzen gerade jüngere Leute in Russland YouTube als alternative Informationsquelle zum Staatsfernsehen. Aber es ist wichtig, dass mehr Menschen in Russland die technischen Fertigkeiten beherrschen, etwa einen VPN einzurichten. Denn es macht einen wesentlichen Unterschied, ob mediale Berichterstattung aus dem Ausland fünf oder zehn oder 15 Prozent der Bevölkerung erreicht. Das kann über die Zukunft Russlands entscheiden. Das größte Problem aus meiner Sicht ist nicht, dass die meisten Menschen in Russland keine unabhängigen ausländischen Nachrichten empfangen oder lesen wollen. Sondern, dass die meisten sie nicht zu brauchen glauben. Sie sind zufrieden mit dem, was sie in Russland bekommen und was eine nationale Erzählung bestätigt.

ZEIT ONLINE: Wie lautet die?

Martynow: Dass der Krieg in der Ukraine eine Art Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs ist. Meine Hypothese lautet, dass die meisten Russinnen und Russen wissen, dass die Staatspropaganda lügt. Sie glauben aber, dass die das nur in den Details tut. So können sich die Menschen weiter gut fühlen. Die russische Staatspropaganda sagt: Wir sind das Volk, das die Nazis besiegt hat, deshalb können wir als Nation gar keine bösen Dinge tun. Und deshalb können es auch keine Russen sein, die heute Kriegsverbrechen in der Ukraine begehen. Das Problem scheint mir nicht so sehr zu sein, korrekte Informationen nach Russland hinein zu berichten, sondern die Blase nationaler Mythen in Russland zum Platzen zu bringen. Das wäre schmerzvoll für Russen. Selbstverständlich nicht annähernd so schmerzvoll, wie der Krieg für die Ukrainer ist.

ZEIT ONLINE: In Deutschland entsteht derzeit der Eindruck, dass der Krieg in der Ukraine dazu führt, dass sich die Mehrheit der russischen Bevölkerung mehr denn je hinter Wladimir Putin versammelt. Ist das nach Ihrer Beobachtung richtig: Im Krieg, und selbst in einem, der vom eigenen Land völkerrechtswidrig geführt wird, scharen sich die Leute um die eigene Führung?

Martynow: Ich glaube, dass der Eindruck stimmt. Im gewissen Sinne erklärt Krieg sich selbst. Je stärker er wütet, umso stärker ausgeprägt ist auch die Ansicht, dass es keine Alternative zu ihm gibt. Doch auch in einer Diktatur, zu der sich Russland nun entwickelt hat, gibt es ja Menschen, die gegen Krieg sind. Es mögen 20 oder 30 Prozent der russischen Bevölkerung sein. Diese Menschen müssen sich gerade sehr einsam fühlen, sie haben sicher Angst, ihre Meinung kundzutun. Mit diesen Leuten müssen wir als Medium ins Gespräch kommen. Wir müssen ihnen dabei helfen, einander zu finden. Sie brauchen von uns die Informationen, mit denen sie in den Meinungsstreit innerhalb der eigenen Familie, des eigenen Freundes- und Kollegenkreises ziehen können.

"Russland ist in Wahrheit gespalten"

"Ich bin froh, dass ukrainische Kollegen überhaupt noch mit uns reden", sagt Kirill Martynow. © Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

ZEIT ONLINE: Es gibt das also noch, das andere Russland?

Martynow: Russland ist in Wahrheit gespalten. Die gegenwärtige Situation, die Präsident Putin und die Leute um ihn herum hergestellt haben, zeichnet einen Weg vor, der direkt in einen Bürgerkrieg in Russland führt.

ZEIT ONLINE: In einen Bürgerkrieg? Möchten Sie mit Ihrer Arbeit einen solchen innerhalb Russlands befördern? Denn das wäre ja logischerweise eine Funktion oder Nebenwirkung unabhängiger Berichterstattung, die gegen die Staatspropaganda antritt: Sie vergrößert die Spaltung innerhalb der Bevölkerung.

Martynow: Ich möchte überhaupt keine Art des Kriegs befördern. Doch wenn der Krieg in der Ukraine noch Monate oder gar Jahre weitergeht, werden wir mutmaßlich irgendwann Unruhen in Russland erleben. Aber womöglich wird es auch nie zu einem Bürgerkrieg innerhalb Russlands kommen.

ZEIT ONLINE: Die Aufgabe einer freien Presse ist ja zunächst einmal, die Fakten zu berichten, so gut sie recherchierbar sind. Stößt ein Medium wie Ihr künftiges dann nicht bald an Grenzen, weil es aufgrund der aktuellen Lage außerhalb des Landes beheimatet ist, über das es berichten will?

Martynow: Es stimmt, wir werden von außerhalb Russlands nun keine klassische Reporterarbeit machen können. Stattdessen bauen wir ein Netzwerk von Reportern vor Ort auf, deren Arbeit zwangsläufig etwas von einer Undercover-Operation haben muss: Ihre Namen werden aus Sicherheitsgründen nicht unter Texten stehen und sie werden keinen offiziellen Status als Journalisten haben. Die russischen Behörden lassen uns keine andere Wahl, als so vorzugehen. Eine andere Frage wird noch sein, wie wir Leute in Russland bezahlen können, denn das können wir aufgrund der Sanktionen nicht von außerhalb Russlands. Ich habe das Gefühl, dass ich dafür auch noch Kryptowährungsexperte werden muss. Noch eine weitere zu den vielen Rollen, die ich gerade neu lerne. (lacht)

ZEIT ONLINE: Werden Sie auch mit ukrainischen Medien oder Journalistinnen und Journalisten zusammenarbeiten?

Martynow: Ich bin froh, dass ukrainische Kollegen überhaupt noch mit uns reden. Ich habe etwa gerade einem ukrainischen Fernsehsender ein Interview gegeben und über Nowaja Gaseta Europe gesprochen. Ukrainer wollen derzeit eigentlich nichts mit Russen zu tun haben, und das ist vollkommen nachvollziehbar. Meine Hoffnung wäre, dass wir als unabhängiges russisches Medium gemeinsam mit ukrainischen zu den russischen Kriegsverbrechen recherchieren könnten. Man braucht Journalisten auf beiden Seiten der Grenze, um diese Arbeit zu machen. Ich empfinde es als Verpflichtung, mit ukrainischen Kollegen zu kooperieren, so diese das wollen. Und unsererseits Hilfe anzubieten, so wir denn welche leisten können.

ZEIT ONLINE: In der knapp drei Jahrzehnte währenden Geschichte der Nowaja Gaseta wurde sie als Medium immer wieder bedroht, sind Redakteure, Reporterinnen, freie Mitarbeiterinnen der Zeitung körperlich angegriffen oder sogar ermordet worden. Einer Ihrer Vorgänger als stellvertretender Chefredakteur, Juri Schtschekotschichin, starb im Jahr 2003 unter mysteriösen Umständen, die international bekannte Reporterin Anna Politkowskaja wurde 2006 erschossen, die freie Mitarbeiterin Anastassija Baburowa 2009. Diese bis heute weitgehend ungelösten Morde geschahen allesamt in Zeiten, in denen Russland zwar mitunter auch gerade Krieg führte, aber nicht in einem derartigen Ausmaß wie heute in der Ukraine. Welche Gefahr gehen Mitarbeitende der Nowaja Gaseta Europe nun ein, wenn sie in Russland undercover recherchieren?

Martynow: Vor 20 Jahren war ich noch kein Journalist. Aber wenn ich heute mit Kollegen sprechen, die die Zeiten erlebt haben und etwa Anna Politkowskaja gut kannten, sagen die: Die Gefahr für Leib und Leben von Journalisten in Russland war früher größer als heute – dafür sind nun die freien Medien dort als Ganzes in Gefahr. Wenn man seine Zeitung verlieren kann, kann man auch sein Leben verlieren, natürlich. Und umgekehrt gilt: Wer es wagt, ukrainische Städte zu bombardieren, der wird auch kein Problem damit haben, Journalisten zu töten.

ZEIT ONLINE: Welche Verpflichtung verspüren Sie für die Leute, die in Russland für Sie arbeiten werden?

Martynow: Es ist ein ethisches Dilemma, überhaupt jemanden zu fragen, ob er oder sie in der derzeitigen Lage für uns arbeiten will in Russland. Und bei jedem, der uns als Quelle dienen möchte, müssen wir zunächst einmal daran denken, dass das Menschen sind, nicht einfach Quellen. Wer immer uns Informationen geben möchte, dem garantieren wir selbstverständlich Anonymität.

ZEIT ONLINE: Aber besteht nicht die Gefahr, dass bestimmte Informationen, an die nicht jeder Mensch herankommt, dann eben auch einen Rückschluss zulassen auf die möglichen Quellen? Lässt sich das Risiko für diese, möglichst nicht von russischen Behörden enttarnt zu werden, also wirklich kalkulieren?

Martynow: Das ist eine Gefahr, das stimmt. Wir müssen eben schneller sein als die russischen Behörden. Man muss ihnen immer ein paar Schritte voraus sein.

"Dmitri Muratow hat sich bewusst entschieden, in Russland zu bleiben"

ZEIT ONLINE: Dmitri Muratow wurde vor wenigen Tagen tätlich attackiert, er wurde in einem Zug mit roter Farbe beworfen. Angeblich rief der Angreifer, das sei "für unsere Jungs", gemeint waren wohl die russischen Soldaten, die in der Ukraine Krieg führen. Was bedeutet es, wenn selbst ein Friedensnobelpreisträger attackiert wird?

Martynow: Diese Frage kann letztlich nur Dmitri Muratow selbst beantworten, aus seinem eigenen Erleben.

ZEIT ONLINE: Er ist derzeit noch in Russland?

Martynow: Das ist er. Dmitri Muratow hat sich bewusst entschieden, in Russland zu bleiben. Diese Entscheidung ist vermutlich mit der Zukunft des Journalismus in Russland als Ganzes verbunden. Ich glaube, er empfindet eine Verpflichtung gegenüber denjenigen Journalisten, die ebenfalls das Land nicht verlassen haben. Wir haben mit ihm und einigen anderen Redakteuren lange Diskussionen über dieses Thema geführt. Sein Entschluss steht. Wie sicher er in Russland sein wird, lässt sich kaum voraussagen.

ZEIT ONLINE: Ein deutsches Medium, Die Welt, hat gerade die russische Journalistin Marina Owsjannikowa engagiert, die international für Aufsehen gesorgt hat, als sie vor laufenden Kameras mit einem Protestplakat gegen den Krieg in eine laufende Nachrichtensendung des russischen Staatsfernsehens gelaufen ist. Sie wurde festgenommen, wieder freigelassen, nun darf sie für ein westliches Medium arbeiten.

Martynow: Und Sie fragen sich jetzt, ob das Teil eines ausgeklügelten Planes der russischen Regierung ist, die europäischen Medien von innen zu zerstören? Das wäre für deren Verhältnisse nun wirklich viel zu ausgeklügelt! (lacht) Nein, mir scheint, dass die russischen Behörden angesichts der Protestaktion Owsjannikowas kühl kalkuliert haben: Hätte man ihr groß den Prozess gemacht, hätte das nur mehr Aufmerksamkeit für ihre Aktion bedeutet, mehr Reporter, die darüber berichtet hätten. Solche Schlagzeilen spielen aus Sicht der russischen Führung nur Oppositionellen wie Alexej Nawalny in die Karten. Also hat man es bei Owsjannikowa gelassen. Aber das ist nur meine Interpretation der Geschehnisse. Man kann es auch als eine gute Nachricht betrachten: Marina Owsjannikowa ist der Beleg dafür, dass es für Menschen, die jahrelang für die Staatspropaganda gearbeitet haben, doch eine Wahl gibt. Und einen Weg hinaus.

ZEIT ONLINE: Nahezu zeitgleich wurde Irina Tumakowa, eine Mitarbeiterin der Nowaja Gaseta, von den russischen Behörden als "ausländische Agentin" eingestuft. Mit diesem Label "Inoagent" (Иноагент, gängige Abkürzung für "Inostrannij Agent", d.V.) wurden vor Kriegsbeginn nicht russische Medien wie etwa die Deutsche Welle belegt, um deren Arbeit in Russland zu erschweren oder ganz zu unterbinden. Dann ging es an die russischen: Auch der Nowaja Gaseta wurde mit der Einstufung gedroht, wenige Tage, bevor sie ihr Erscheinen einstellte. Ist das eine weitere Eskalationsstufe in dem Versuch der russischen Führung, jegliche freie Berichterstattung in dem Land unmöglich zu machen?

Martynow: Aus meiner Sicht hat dieser Status keine große Bedeutung mehr. Ich habe das Gefühl, mein halber Journalistenfreundeskreis ist bereits als "ausländischer Agent" eingestuft. Als russischer Journalist frage ich mich langsam: Wann wurde mein Leben eigentlich derart interessant, dass sich die Behörden meines Heimatlandes den Kopf darüber zu zerbrechen begannen? Und wieder denke ich: Ich bin in einem schlechten Politthriller gelandet. Vergangenes Jahr wurde ein komplett russisch finanzierter Fernsehsender, TV Rain, als "ausländischer Agent" eingestuft – das ist, als ob Fox News in den USA zum "ausländischen Agenten" erklärt würde.

ZEIT ONLINE: Es gibt also auch absurde Seiten einer Diktatur, die einen zum Lachen bringen könnten, auch in einer derart düsteren Zeit?

Martynow: Vor ein paar Wochen habe ich das Video eines Interviews gesehen, das der New-Yorker-Chefredakteur David Remnick mit dem Historiker Stephen Kotkin geführt hat. Kotkin beschrieb darin die Rolle der Konsuln Putins und sagte: Diese Leute um Putin herum müssen ein bisschen "tupoy" (тупой, d.V.) sein – dumm. Denn wer zu klug sei, der könne Putin gefährlich werden. Es gibt im Russischen noch ein anderes Wort, das die Bezeichnung "ausländischer Agent" gut erläutert, es lautet "ebala" (ебала, d.V.) und bedeutet, nun ja, Scheißgesicht. Eine der Folgen für Personen, die zu solchen erklärt wurden, ist folgende: Jedem Post, den sie auf Social Media schreiben, müssen sie eine aus 23 Worten bestehende Erklärung hinzufügen, dass dieser Post von einem "ausländischen Agenten" verfasst wurde. Damit alle Leser Bescheid wissen über den Postenden. Der ist ein ebala.

ZEIT ONLINE: Sogar, wenn man ein Foto seiner Katze postet?

Martynow: Sogar dann. Twitter kann man als "ausländischer Agent" getrost abschalten. Vor die 23 Worte der Erklärung passt bestenfalls ein einzelnes Wort. "Hmm" zum Beispiel.