Mehr als 8.000 gesicherte Fälle in mehr als 20 Ländern, fast 200 Tote: Das neue Coronavirus 2019-nCov ist längst zu einem internationalen Problem geworden. Aber ist der Ausbruch auch offiziell ein internationaler Gesundheitsnotstand? Um das zu entscheiden, musste sich ein Gremium der Weltgesundheitsorganisation WHO heute folgende Fragen stellen:
  • Ist der Coronavirus-Ausbruch ein außergewöhnliches Ereignis?
  • Stellt er ein Gesundheitsrisiko für Menschen in anderen Ländern dar?
  • Bedarf er einer koordinierten internationalen Antwort?
Wie die meisten Expertinnen und Experten war auch das Gremium der WHO der Meinung, dass all diese Fragen mit Ja beantwortet werden müssen und rief den Notstand aus. Das Erstaunliche daran ist, dass die Entscheidung dem Gremium alles andere als leicht fiel. Erst im zweiten Anlauf und nach langen Diskussionen entschied sich der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, dazu. Warum nur das Zögern? Warum wurde aus der Entscheidung so ein Politikum, und was bedeutet dieser Notstand eigentlich?
Um zunächst mit einem Missverständnis aufzuräumen: Die Entscheidung der WHO ist keine Risikobewertung. Dass die WHO nun den Gesundheitsnotstand ausruft, liegt nicht daran, dass sie das neue Coronavirus für gefährlicher hält als noch am 22. Januar, als ein erstes Notfalltreffen stattfand. Das neuartige Coronavirus machte Wissenschaftlerinnen und Forschern von Beginn an Sorgen. Seit dem 13. Januar gibt es Fälle außerhalb Chinas. Inzwischen weiß man, dass das Virus schon länger von Mensch zu Mensch übertragen wird, wahrscheinlich schon seit Mitte Dezember (New England Journal of Medicine: Li et al., 2020). Das Virus ist nicht schlagartig bedrohlicher geworden, nur weil die WHO einen Notstand ausruft.
Das Ausrufen eines Gesundheitsnotstandes dient etwas anderem: Sehr vereinfacht führt es dazu, dass die WHO mehr Befugnisse bekommt. Sie berät nicht wie sonst üblich die betroffenen Länder, sondern beginnt gesundheitliche Maßnahmen zu koordinieren. Durch den Notstand werden "Kompetenzen an die WHO und die Staatengemeinschaft abgegeben", erklärt Maike Voss, die bei der Stiftung Wissenschaft und Politik zu globalen Gesundheitsfragen arbeitet.
So müssen Länder, wenn der Notstand ausgerufen wurde, rechtfertigen, was sie in puncto Gesundheit tun. China könnte nun innerhalb von 48 Stunden erklären müssen, was es für einen Sinn für die Gesundheit der Bevölkerung macht, ganze Städte unter Quarantäne zu stellen. Das gleiche gilt, wenn Länder Grenzen schließen oder den Handel stoppen. So – auch das ist die Idee hinter dem Internationalen Gesundheitsnotstand – soll sichergestellt werden, dass Nahrungsmittel oder Medikamente weiter an betroffene Orte kommen.
Die Deklaration eines Gesundheitsnotstands ist zwar keine Wunderwaffe, schreiben Medizinrechtler in einem heute erschienenen Artikel (Jama: Phelan et al., 2020). Sie sei aber ein "starkes Signal an die internationale Gemeinschaft". Der WHO-Generaldirektor und viele Experten erhoffen sich von der Entscheidung, dass auch Länder mit schwächeren Gesundheitssystemen profitieren, sollte das Coronavirus bei ihnen ankommen.
Obendrein ist der Notstand auch ein Eingriff in die Souveränität eines Staates und damit immer ein Politikum. Im Falle des Coronavirus 2019-nCoV in China ist er sogar hochpolitisch. China hat versucht, mit den massiven Eindämmungsmaßnahmen der Welt zu zeigen, dass es die Notlage im Griff habe, sagte Maike Voss: "Gesundheitsschutz ist auch immer ein Zeichen politischer Durchsetzungskraft." China wollte der Welt zeigen, dass es keiner Hilfe bedarf. In einer Phase, in der es im Handelskonflikt mit den USA steckt und mit der neuen Seidenstraßen-Initiative seine Wirtschaftskraft in der ganzen Welt zeigt, will es keine Schwäche zeigen.
Dazu kommt noch etwas anderes: In der Vergangenheit wurde der Gesundheitsnotstand oft in Situationen ausgerufen, in denen die betroffenen Gebiete und Länder dringend Geld und Hilfe brauchten, etwa die demokratische Republik Kongo im Kampf gegen Ebola. Oder weil dringend mehr zu einem Erreger geforscht werden musste, beim Zika-Virus 2016 zum Beispiel. Das beides aber trifft auf den Coronavirus-Ausbruch eher nicht zu: China demonstriert, dass es auch mit eigenen Kräften bei der Bekämpfung des Ausbruchs sehr weit kommt. Und Forscherinnen und Wissenschaftler weltweit haben in den vergangenen Wochen immense Mengen an Daten über das Virus zusammengetragen und mit der WHO geteilt.
Der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, dürfte vor dem Hintergrund all dessen hin- und hergerissen gewesen sein: Rein rechtlich musste er wohl einen Gesundheitsnotstand ausrufen. Auf der anderen Seite könnte der Notstand – so die Angst mancher – die so wichtige Zusammenarbeit mit der chinesischen Regierung aufs Spiel setzen, die bisher anscheinend bereitwillig Daten und Laborproben mit der WHO und anderen Ländern geteilt hat. Eine Zusammenarbeit, die Ghebreyesus mit seinem Besuch in China und in Gesprächen mit dem Staatschef Xi Jinping in den vergangenen Tagen bekräftigen wollte.
Und so passt es auch, dass Ghebreyesus nach dem letzten Gesundheitsnotstandstreffen sagte, ihn störe, dass es bei der Frage nach dem Notstand nur Ja oder Nein gebe und nichts dazwischen. Und dass er in der heutigen Pressekonferenz gleich zwei mal sagte, die Deklaration sei "kein Misstrauensvotum gegenüber China". Es war der Politiker Ghebreyesus, der das betonte – in einer Situation, in der klar war: Auch Gesundheit kann ein sehr politisches Thema sein.
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