Wer in diesen Stunden die aserbaidschanische Propaganda zur Lage in Bergkarabach verfolgt, könnte den Eindruck bekommen, ein alter Konflikt in der Region sei nach Jahrzehnten endlich gelöst. Das umkämpfte Gebiet im Kaukasus, das rechtlich zu Aserbaidschan gehört und fast ausschließlich von Armenierinnen und Armeniern bewohnt wird, sei von aserbaidschanischen Truppen eingenommen worden. Nun seien die "Separatisten" bereit, die Waffen abzugeben. Man führe "Verhandlungen" über die "Wiedereingliederung" der dort lebenden armenischen Bevölkerung. Ende gut, alles gut, könnte man meinen. Oder wie der aserbaidschanische Diktator Ilcham Alijew es selbst ausdrückte: In Bergkarabach entstehe nun ein "Paradies".

Wer dagegen Meldungen und Videos aus Bergkarabach selbst verfolgt, wer Menschen zuhört, die dort leben, der stellt schnell fest: Nichts ist vorbei. Die Bewohner Bergkarabachs fürchten, dass aserbaidschanische Militär könne mit Waffengewalt die seit 30 Jahren de facto autonom regierte Region einnehmen, noch während die Verhandlungen laufen. In der Hauptstadt Stepanakert seien an diesem Morgen Schüsse zu hören gewesen. Bilder zeigen Menschen, die auf gepackten Taschen auf der Straße sitzen und durch die monatelange Blockade der Region psychisch und körperlich am Ende sind. Hunderte sollen schon bei dem Angriff getötet worden sein, noch mehr verletzt. Tausende gelten als vermisst, vor allem Kinder, die in der Schule waren, als der Angriff losging. Die Menschen sind in Panik, fürchten sich vor Vergewaltigungen, Folter, Ermordungen.

Internationale Gemeinschaft ist gefragt

Und tatsächlich gibt es viel Grund zur Annahme, dass den Armenierinnen und Armenier in Bergkarabach die schlimmsten Stunden noch bevorstehen. Zwar lassen sich die Berichte kaum überprüfen – weder unabhängige Organisationen noch internationale Journalisten sind aktuell in der Region. Doch das Regime selbst hat in den vergangenen Jahren keinen Zweifel daran gelassen, was es in Bergkarabach vorhat, sobald Aserbaidschan die Macht übernimmt. In der offiziellen Staatspropaganda werden Armenierinnen und Armenier als "Ungeziefer" bezeichnet, zuletzt in einem Interview mit dem türkischen Staatsfernsehen als "Tumor". Auch das Ziel der ethnischen Säuberung hat Aserbaidschan nie verschwiegen. Im Gegenteil, der Staat druckte es sogar auf eine Briefmarke: Ein Mann, mit einem Schlauch in der Hand, steht über einer Landkarte. Das Gebiet zu seinen Füßen wird von ihm buchstäblich "gereinigt".

Die Soldaten, die in diesen Stunden durch die Straßen von Bergkarabach ziehen, sind mit diesem antiarmenischen Hass aufgewachsen. Mehr noch: Ein möglichst brutales Vorgehen könnte dem Regime in Aserbaidschan sogar nützen, zumindest innenpolitisch. Denn es ist alles andere als eine Neuigkeit, dass die Vertreibung oder Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe Machthabern dazu dienen kann, eben diese Macht zu sichern. Die Armenierinnen und Armenier selbst mussten das bereits auf die brutalste Weise erfahren: während des Völkermords Anfang des 20. Jahrhunderts im osmanischen Reich.

Es gibt aber noch eine Chance, zumindest das Allerschlimmste zu verhindern. Gefragt ist in diesem Fall die internationale Gemeinschaft, auch Deutschland. Diesen Morgen erst twitterte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Michael Roth: "Wir haben weggeguckt und verharmlost." Wirtschaftlich könne man nun nicht mehr länger mit Aserbaidschan kooperieren, schreibt er weiter. Andere europäische Politiker sagen, man müsse nun über Sanktionen gegen das Regime sprechen.

Auf diese Einsicht, so spät sie kommt, muss nun ein möglichst schneller Kurswechsel folgen. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine pflegen Deutschland und die EU intensive Beziehungen zu dem Gaslieferanten Aserbaidschan. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte sich lächelnd und Hände schüttelnd mit dem Diktator; Olaf Scholz ebenso. Diese Freundschaft kann sich Europa nicht länger leisten, zumindest wenn die Außenpolitik weiter den Anschein erwecken soll, "wertebasiert" zu sein.

Keine Journalisten und Hilfsorganisationen

Kurzfristig braucht es noch etwas anderes: internationale Beobachter in Bergkarabach. Journalisten und Hilfsorganisationen müssen in die Region gelassen werden. Eine Beobachtermission, etwa durch die Vereinten Nationen in Bergkarabach eingesetzt werden. Dafür muss sich Deutschland, muss sich die EU starkmachen. Jetzt, da die Machtübernahme durch Aserbaidschan in Bergkarabach zur Tatsache geworden ist, muss sichergestellt werden, dass diese möglichst gewaltfrei abläuft. Es ist derzeit schwer vorstellbar, dass Armenierinnen und Armenier unter Aserbaidschan weiter friedlich in dieser Region leben können. Zwar betont Aserbaidschan Absichten seit dem Angriff, das möglich machen zu wollen. Doch schon bei dem letzten Angriff 2020, bei dem Aserbaidschan Teile Berg-Karabachs einnahm, wurden die dortigen Bewohner vertrieben. Es gab Berichte über alte Menschen, die nicht mehr fliehen konnten und gefoltert wurden. In aserbaidschanischen Telegram-Kanälen sollen derzeit Bilder von armenischen Frauen und Kindern verbreitet werden, zusammen mit Vergewaltigungs- und Tötungsfantasien.

Es müssen also Fluchtwege für die Menschen in das Nachbarland Armenien geschaffen und gesichert werden – auch für Menschen, die das Regime nicht fliehen lassen will. Es gibt bereits Gerüchte über eine Liste mit Namen von Menschen, die Aserbaidschan festnehmen lassen will. Viele fürchten, dass es alle oder einen Großteil der Männer treffen könnte. Diese Gerüchte lassen sich nicht überprüfen, überraschend wäre es aber nicht.

Vor allem aber darf die internationale Gemeinschaft nicht mehr denselben Fehler begehen wie in den vergangenen Monaten. Statt sich zurückzuhalten und auf freundliche Diplomatie zu setzen, muss Aserbaidschan von nun eine sehr klare Grenze aufgezeigt werden. Und das heißt in diesem Fall auch: die Grenze zum armenischen Staatsgebiet. Aserbaidschan deutet schon seit einiger Zeit an, dass Bergkarabach für das Regime nur der Anfang sei. Das Regime nannte Armenien "Westaserbaidschan", behauptete, die Hauptstadt Jerewan sei ursprünglich aserbaidschanisch gewesen. In Armenien fürchten nun viele, dass das Land als Nächstes überfallen werden könnte. Europa muss alles dafür tun, dass ihre Sorge unbegründet bleibt. Denn eines ist sicher: Vorbei ist es noch lange nicht.