Commentary on Political Economy

Saturday 24 February 2024

 

Ukrainerinnen in Deutschland über Liebe und Integration

Ihr Herz sei in der Ukraine, sagen Iryna (links) und Olena, hier in Berlin-Marzahn.

Auf dem Weg durch die Kleinstadt in Richtung Dorf macht Olga aus dem Busfenster heraus eine spontane Führung: Unser Museum, sagt sie dann. Unser Schloss. Unsere Bibliothek. Da, der Häuserblock, wo sie am liebsten einziehen würde, um endlich unabhängig zu sein von diesem Busfahrplan. Am Wochenende fährt gar nichts. Eine knappe halbe Stunde später geht es an einem Galgen vorbei, der in einem Heuballen steckt, ein Relikt der Bauernproteste. Manchmal, sagt Olga, stellt sie sich vor, wie sie dort aufgeknüpft wird. Ihr ist klar, dass viele Deutsche inzwischen schimpfen, die Flüchtlinge aus der Ukraine wollten nur Bürgergeld beziehen und nicht arbeiten. Dabei ist es so viel komplizierter.

Wie viele ihrer Landsleute ist Olga mit ihrer Tochter anfangs bei einer deutschen Familie untergekommen, die dann geholfen hat, die Zwei-Zimmer-Wohnung in dem kleinen, stillen Dorf zu finden. Eine Einliegerwohnung für Touristen in einer Gegend, in der es kaum Touristen gibt. Es sieht nicht aus, als hätte es sich jemand hier gemütlich gemacht. Auf dem Sofa hat Olga ihre Bewerbungsunterlagen ausgelegt, an den Türen hängen Zettel, für die Tochter: Verstehen – verstand – verstanden. Bleiben – blieb – geblieben. Die Tochter mag lieber Puzzle als unregelmäßige Verben.

Die Deutschen grüßen freundlich, laden sie aber nicht zu sich nach Hause ein

Olga packt ihren Beutel aus. Wenn sie in der Kleinstadt unterwegs ist, fühlt sie sich wie eine Jägerin oder Anglerin. Heute war ein erfolgreicher Tag: frisches Brot vom Markt und Spreewaldgurken. Sie hat in der Kramkiste der Caritas für ein paar Cent Frühlingsturnschuhe für ihre Tochter gefunden und bei Aldi ein Mikrofaserhandtuch, das sie in das nächste Paket in die Ukraine stecken wird, für ihren Mann oder ihren Sohn. Aber zuerst würfelt sie eine Zwiebel und brät Hühnerbeine im Multikocher. Dazu schlägt sie Kartoffeln zu Püree. Es gibt nur zwei Gabeln. Die Deutschen grüßten freundlich, sagt Olga, aber sie lüden niemanden nach Hause ein. Auch sie selbst hatte noch nie Besuch.

Im Frauentreff Hellma in Berlin-Marzahn können Olga (links) und Iryna beim Tee offen darüber reden, wie es ihnen geht.
Im Frauentreff Hellma in Berlin-Marzahn können Olga (links) und Iryna beim Tee offen darüber reden, wie es ihnen geht. Bild: Jens Gyarmaty

Zwischen den Plattenbauten von Marzahn gibt es Kräutertee in den Räumen des Frauentreffs Hellma. Die Leiterin Tetiana Goncharuk kennt das Dilemma: Wenn geflüchtete Frauen an Selbständigkeit und Unabhängigkeit gewinnen, wenn sie sich in der Fremde schneller entwickeln als der Partner daheim, kann eine Beziehung in die Schieflage geraten.

Iryna und Olena verstehen nicht einmal, wovon sie spricht. Ihre Herzen, ihre Seelen seien in der Ukraine, sagen beide. Iryna, die Logistikerin, wartet gerade auf den nächsten Deutschkurs, B2. Olena, die Ärztin, kämpft noch mit B1. Ihre Motivation ist gering. In der Ukraine hat sie ein Labor geleitet. In Deutschland wird sie nie an dieses Niveau anknüpfen können. Ihre Abschlüsse werden nicht anerkannt. Außerdem ist es schwer, sich auf Grammatik zu konzentrieren, wenn in der Kurspause Kriegsnachrichten aufploppen. Olena hat eine App auf dem Handy, die jeden Raketenalarm in der Ukraine anzeigt. Sie hat Angst um ihre erwachsene Tochter, die in Kiew studiert. Noch mehr Angst hat sie um den Vater ihrer kleinen Tochter an der Front. Ihre allergrößte Angst: der Tochter sagen zu müssen, dass der Vater nicht mehr lebt.

Sie hat viel geweint, er hat sie unterstützt

Für wen die Trennung schwerer ist? Iryna weiß es nicht. Immerhin sind die Kinder bei ihr. Ihr Mann hat nur den Chihuahua, für den die Schwiegermutter eine grüne Mütze gestrickt hat. Ohne die Unterstützung ihres Mannes, sagt sie, hätte sie diese zwei Jahre in Berlin nicht geschafft. Sie hat viel geweint. Wenn ihr besonders finster zumute war, riet ihr Mann, spazieren zu gehen und den Blick und die Konzentration auf einen Baum zu richten, das vertreibe schlimme Gedanken. Im Sommer haben sie und die Kinder ihn besucht, so wie viele Ukrainerinnen das machen in den drei Wochen Urlaub, die das Jobcenter pro Jahr gewährt. Sie haben alles, wirklich alles zu zweit unternommen, einkaufen, sogar in die Apotheke gehen, und als sie gestritten haben, ein einziges Mal, hat ihr Mann gesagt, auch das habe er so sehr vermisst. Auf Distanz, im Krieg, im Videocall lässt es sich nicht streiten.

Das neue Leben in Deutschland ist mitunter ein Balanceakt: Olga und ihre Tochter.
Das neue Leben in Deutschland ist mitunter ein Balanceakt: Olga und ihre Tochter. Bild: Jens Gyarmaty

„Was heißt vermissen?“, fragt Olga. Als Soldatenfrau ist sie regelmäßiges Umziehen gewohnt. Fremd zu sein ist ihr vertraut. Wenn sie sagt, sie lebe in zwei Welten, meint sie nicht nur Deutschland und die Ukraine. Sie meint die pragmatische Olga, einerseits, die Turnschuhe aus Kramkisten fischt und den Busfahrplan auswendig kann, die Olga mit dem Edelstahlherz. Und die poetische Olga, die gern Schriftstellerin wäre, von Selbstverwirklichung in Deutschland träumt und mit Deepl emotionale Wahrheiten auf den Punkt bringt, die sich die pragmatische Olga nie erlauben würde.

„Ein Ehepaar ist, wenn Menschen sich gegenseitig zum Ganzen vervollständigen, zusammen bilden sie eine Galaxie“, steht da dann. Und: „Wir rufen uns jeden Tag an, fluchen, weinen, beschuldigen uns gegenseitig, schwören ewige Liebe und Hass.“ Sie schreibt auch über den erwachsenen Sohn, der neuerdings bei der Armee ist: „Die Traurigkeit über das Schicksal unseres Sohnes verbindet uns und macht unsere Liebe stärker. Wir sprechen jeden Tag über unseren Sohn. Ich weine. Das Herz meines Mannes weint, er flucht mit bösen Worten. Wir sind machtlos. Ich kann Deutsch lernen. Ich kann eine gute Arbeit in Deutschland finden. Aber wie können wir unseren Sohn retten?“

Er demütigt sie, um nicht verrückt zu werden. Dann ist sie seine Psychologin

Manchmal beschimpft ihr Mann auch sie. Nennt sie eine lausige Hausfrau und Mutter und droht damit, sich eine jüngere Frau zu suchen. Sie kennt das schon. Sie schreibt: „Er bittet mich um Mitgefühl und demütigt mich gleichzeitig. Das ist seine Art, sich zu entspannen und nicht verrückt zu werden. Meine Hände zittern, ich muss mich hinsetzen, damit ich nicht hinfalle, ich kann später weinen.“ Seine Psychologin sei sie dann. Oder eine Art Notfallsanitäter. Sie macht wieder einen Witz. In Klammern schreibt sie: „Gibt es so einen Job für mich beim Jobcenter?“

Die Ehefrau eines Berufssoldaten zu sein – Olga nennt das eine Aufgabe, eine Arbeit, einen Job. „Ich muss das ertragen. Das ist meine Rolle, so zeige ich meine Hilfe.“ Weder zweifelt sie an der Beziehung, noch hält sie etwas davon, alte Probleme durch neue zu ersetzen.

Ist ihr Mann ein guter Mann? „Ja.“

Liebt sie ihn? „Ja.“

Wenn der Krieg vorüber ist, so prophezeit es ihr weiser, alter Vater, werden Eheleute sich erst wieder aneinander gewöhnen müssen. „Wir werden andere Menschen sein“, sagt Olga. Aber auch ihr Land werde ein anderes sein. Es werde andere Menschen brauchen.

Bis dahin fragt sie sich: „Wo ist mein Platz?“ Wenn Olga das stille Dorf verlassen würde, um in den Wohnblock in der Kleinstadt zu ziehen und endlich auf den Busfahrplan zu pfeifen – woher käme das Geld für die Kaution? Was ist mit Möbeln? Sie weiß sehr wohl, wie einfach es in Deutschland ist, gebrauchte Einrichtungsgegenstände zu finden, die nicht viel kosten. Wie aber wird man das Zeug wieder los? Wenn es schnell gehen muss, weil etwas passiert ist in der Ukraine, mit dem Mann, den Eltern, dem Sohn? Und die Kaution? Im Kopf führt Olga eine Liste, welche Habseligkeiten sie wo blitzschnell entsorgen könnte. Sie braucht nicht mehr als den kleinen Rucksack mit ihren Pässen und Dokumenten.

Wie ein Kartenspiel fühlt sich dieses Leben an, sagt sie, wie eine Lotterie. Sie kennt diese Worte auf Deutsch, und in gewisser Weise mag sie dieses Gefühl: Alles ist offen und kann sich jederzeit ändern. „Der Krieg ist ein Teil in meinem Leben“, sagt Olga. Nur ob das Jobcenter das versteht? Immerhin, der nächste Schritt steht jetzt fest: Ende Februar wird Olga ein Praktikum in der Seniorenresidenz beginnen.

Quelle: F.A.S.
Autorenporträt / Schaaf, Julia
Julia Schaaf
Redakteurin im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
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